Pauschale Kürzung der LSE-Tabellenlöhne bei der Bemessung des IV-Grades
23. Juli 2024
Seit 1. Januar 2024 gibt es einen 10%igen bzw. 20%igen Pauschalabzug bei der Bemessung des Invalideneinkommens anhand von LSE-Tabellenlöhnen.
Krankheiten und Unfälle können jeden treffen und schlimmstenfalls zu einer dauerhaften ganzen oder teilweisen Erwerbsunfähigkeit führen, wodurch ein Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung ent-stehen kann. Für die Bemessung der Höhe der Invalidenrente ist jedoch nicht der Grad der Erwerbsunfähigkeit massgebend, also nicht der von einem Arzt oder einer Ärztin festgehaltene Arbeitsunfähigkeitsgrad. Für die Festsetzung einer Invalidenrente ist der Invaliditätsgrad entscheidend. Der Invaliditätsgrad ist die prozentuale Differenz zwischen dem Einkommen, welches die betroffene Person ohne gesundheitliche Einschränkung erzielen könnte (sog. Valideneinkommen) und jenem Einkommen, welches trotz der gesundheitlichen Einschränkungen noch erzielbar ist (sog. Invalideneinkommen; Art. 16 ATSG).
Wenn eine versicherte Person aufgrund von Krankheits- oder Unfallfolgen nur noch eingeschränkt arbeiten kann, müssen daher die beiden Vergleichseinkommen berechnet werden. Beim Valideneinkommen wird meist auf das früher tatsächlich erzielte Einkommen in einem 100%-Pensum abgestellt. Das Invalideneinkommen kann unter Umständen ebenfalls am noch erzielten tatsächlichen Einkommen bemessen werden. Regelmässig sind die versicherten Personen jedoch nicht mehr arbeitstätig, zum Beispiel weil es schwierig ist, eine an die gesundheitlichen Probleme angepasste Arbeit in einem Teilzeitpensum zu finden. Wenn eine versicherte Person, welche aus gesundheitlichen Gründen nur noch in einem Teilzeitpensum arbeiten kann, aber im Zeitpunkt der Berechnung des Invaliditätsgrades keine Arbeit hat, wird gemäss langjähriger Rechtsprechung auf die sog. LSE-Tabellenlöhne abgestellt. Dabei handelt es sich um die Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik, welche alle zwei Jahre durchgeführt wird. In diesen Lohntabellen werden jedoch nicht nur Einkommen von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen erfasst, sondern von allen Arbeitstätigen und damit vorwiegend Löhne von gesunden Menschen. Für Menschen mit Einschränkungen sind diese LSE-Tabellenlöhne in der Realität leider meist nicht erreichbar. Eine hierzu durchgeführte Studie (BASS-Gutachten vom 08.01.2021) zeigt, dass die tatsächlichen Einkommen von Menschen mit Einschränkungen 14% bis 17% tiefer sind als jene von gesunden Menschen.
Basierend auf dem BASS-Gutachten wurde eine politische Motion eingereicht, welche sowohl vom Stände- als auch vom Nationalrat angenommen wurde und eine neue Lösung forderte. Statt der Ausarbeitung einer auf wissenschaftlichen Daten basierte neue Lösung wurde per 1. Januar 2024 ein Pauschalabzug eingeführt. Art. 26bis Abs. 3 IVV legt nun fest, dass von den statistischen Werten bei allen 10% abgezogen werden müssen. Wenn eine betroffene Person nur noch 50% oder weniger arbeiten kann, werden pauschal 20% abgezogen. Diese Lösung wird den gestellten Anforderungen der Motion nicht gerecht, konnte aber ohne grossen Aufwand und Zeitverlust umgesetzt werden.
Die Neuregelung, welche seit 1. Januar 2024 in Kraft ist, bedeutet nun, dass bei allen laufenden IV-Verfahren, bei welchen für die Bemessung des Invalidenkommens auf die LSE-Tabellenlöhne abgestellt wird, 10% oder 20% abgezogen werden müssen. Leider entfallen gemäss der Verordnungsbestimmung mit dieser Neuregelung die sog. Leidens- und Teilzeitabzüge, welche in der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung Anpassungen an die individuelle Situation ermöglichten. Die Leidens- und Teilzeitabzüge waren auf maximal 25% beschränkt. Die Neuregelung beschränkt den Abzug auf 20%, was unter Umständen sogar eine Schlechterstellung von betroffenen Personen bedeuten kann. Die Neuregelung ist daher nur teilweise tatsächlich eine Verbesserung. Ob die Verordnungsbestimmung in der aktuellen Gestaltung verfassungs- und gesetzesmässig ist, wird sich noch zeigen.
Basierend auf der Neuregelung sind die IV-Stellen nun verpflichtet, innerhalb von drei Jahren – also bis Ende 2026 alle laufenden Teilrenten, welche auf LSE-Tabellenlöhnen basieren und bei welchen noch kein Abzug von 20% berücksichtigt wurde, zu überprüfen. Wenn die Neuregelung zu einer höheren Rente führt, wird diese rückwirkend auf den 1. Januar 2024 angepasst. Würde die Neuregelung zu einer Aufhebung oder Herabsetzung der Rente führen, darf grundsätzlich keine Revision durchgeführt werden. Leitet die Invalidenversicherung jedoch ein vollständiges Revisionsverfahren ein und überprüft auch den Gesundheitszustand, kann im Falle einer Veränderung des Gesundheitszustandes zusammen mit der Neuregelung eine Rentenreduktion oder -aufhebung erfolgen.
Versicherte Personen, bei welchen Rentenleistungen basierend auf LSE-Tabellenlöhnen abgewiesen wurden, können eine neue IV-Anmeldung einreichen, wenn sie glaubhaft machen, dass die Berechnung des Invaliditätsgrades mit den neuen Abzügen (10% oder 20%) zu einem Rentenanspruch geführt hätte. Eine Neuanmeldung in diesem Sinne ist auch möglich, wenn durch den neuen Pauschalabzug ein Anspruch auf eine Umschulung entstehen kann.
Die Pauschallösung, welche bereits in anderer Fassung vom 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2023 in Kraft war, wird vom Bundesgericht in seinem Urteil vom 8. Juli 2024 (8C_823/2023) erheblich kritisiert. Der Bundesrat als Verordnungsgeber hat mit dieser Regelung den Delegationsrahmen verletzt, in dem er den sogenannten Leidensabzug abschaffte. Nach langjähriger bundesgerichtlicher Rechtsprechung konnten die statistischen Tabellenlöhne für die Bemessung des Invalideneinkommens anhand eines Leidensabzuges bis max. 25% reduziert werden. Gemäss dem bundesgerichtlichen Urteil ist daher ergänzend zu den Pauschalabzügen weiterhin die bisherige Rechtsprechung zum Leidensabzug zu berücksichtigen, bis eine Alternative in Form von berichtigten Tabellenlöhnen verfügbar ist.
Die Neuregelung ist in der Verordnung über die Invalidenversicherung festgehalten, weswegen sie nicht automatisch auch im Bereich der Unfallversicherung, der Militärversicherung oder der beruflichen Vorsorge anwendbar ist. Da auch in diesen beiden Bereich mit den LSE-Tabellenlöhnen zur Bemessung des Invalideneinkommens gearbeitet wird, müssten konsequenterweise die neuen Pauschalabzüge ebenfalls angewendet werden. Auch diesen Umstand kritisierte das Bundesgericht im erwähnten Urteil. Die Pauschalabzüge im Bereich der Invalidenversicherung dürften auch in den anderen Sozialversicherungsbereichen argumentativ herangezogen werden können. Wir sind damit noch nicht am Ende in der Erarbeitung einer fairen Lösung, aber das Problem ist anerkannt und ein Anfang gemacht.
Für betroffene Personen lohnt es sich also ihre bestehenden IV-Verfügungen mit Teilrenten oder abgelehnten Rentenleistungen neu zu überprüfen. Da eine Schlechterstellung unter Umständen möglich ist und die neueste Rechtsprechung des Bundesgerichtes beachtet werden muss, lohnt es sich für die Überprüfung juristische Unterstützung beizuziehen.